Originaltitel der Dissertation: Democratic Governance and Digital Dynamics: The Case of Monastic Organizations
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10. Dezember 2025
7 Minuten
Klöster sind die ältesten kontinuierlich existierenden Unternehmungen. Sie mussten über Jahrhunderte hinweg auf radikalen Wandel reagieren und haben in der Folge einen Fundus demokratischer Instrumente ausdifferenziert. Diese Instrumente, etwa Abwahlmechanismen und gemeinschaftliche Konsultationsprozesse, können auch moderne Organisationen inspirieren. Klöster können so als wenig beachtete demokratische Expertenorganisationen herangezogen werden – in einer Zeit, in der hierarchische Führungsmodelle an ihre Grenzen stossen und partizipative Ansätze an Bedeutung gewinnen.

Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts stellen Wissenschaftler eine Diskrepanz fest zwischen den demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft – und der Art und Weise, wie Arbeit organisiert wird. In den letzten Jahren haben Konzepte der organisationalen Demokratie wieder an Bedeutung gewonnen. Dies widerspiegelt einen Wandel traditioneller Managementansätze: Hierarchische Kontrolle wird zunehmend ineffektiv, um Organisationsmitglieder zu koordinieren und langfristig zu motivieren. Partizipative Organisationsansätze haben sich als wirksam erwiesen, um die „Weisheit der Vielen“ zu nutzen, gemeinsame Entscheidungen zu legitimieren, die Verantwortlichkeit von Führungskräften zu stärken und die Anpassungsfähigkeit von Organisationen zu verbessern. Demokratische Organisationsansätze könnten so potenzielle Lösungen für gegenwärtige Governance-Herausforderungen in einer zunehmend komplexen und ungewissen Umwelt bieten. Eine erfolgreiche Umsetzung demokratischer Ansätze bleibt jedoch herausfordernd. Die Einführung einer konsequent demokratischen Governance scheitert häufig an einem Zusammenstoß mit traditionellen hierarchischen Organisationslogiken und an entsprechenden Widerständen innerhalb der Organisation.Die Suche nach tragfähigen demokratischen Ansätzen wird durch den Mangel an systematischer Forschung zu organisationalen Vorbildern erschwert: Wir wissen immer noch zu wenig über die Bedingungen, Mechanismen und unterschiedlichen Dynamiken etablierter demokratischer Governance.
Was können wir von den ältesten Organisationen über Mitbestimmung lernen?
Hier bieten sich monastische Gemeinschaften als unkonventionelle aber traditionsreiche Forschungsgegenstände an. Nach Max Weber können Klöster als die ersten systematischen Arbeitsorganisationen betrachtet werden, und sie haben ihre Governance-Systeme über Jahrhunderte hinweg kontinuierlich verfeinert. So hat etwa das Kloster Disentis im Schweizer Surselva-Tal kürzlich sein 1400-jähriges Bestehen gefeiert. Klöster bieten somit einen reichhaltigen Zeitraum für organisationales Lernen. In Klöstern lassen sich denn auch jahrhundertealte, demokratisch gelebte Formen der Mitbestimmung finden – lange bevor es moderne demokratische Staaten oder moderne Organisationsdemokratie gab.
Partizipative Entscheidungsprozesse sind seit der Gründung der ersten Klöster in ihrer DNA verankert, und im Laufe ihrer Geschichte wurden verschiedene demokratische Institutionen entwickelt, insbesondere zur Bewältigung von Krisenzeiten. Historische Herausforderungen wie Machtmissbrauch und Missmanagement sollten adressiert werden – Herausforderungen, die auch in heutigen Organisationen aktueller denn je sind. In den meisten Klöstern werden die Äbte und Äbtissinnen demokratisch gewählt, das Consilium – ein repräsentatives Kontrollgremium – berät und kontrolliert den Abt, bei wichtigen Entscheidungen werden alle einbezogen. Klöster können unter diesen Gesichtspunkten als Experten-Organisationen für demokratische Governance herangezogen werden.

Welche langfristigen Effekte hat die historische Prägung demokratischer Organisationslogiken auf gegenwärtige Praktiken in einem dynamischen Umfeld? Welche unterschiedlichen Wirkungen gehen von spezifischen Rechenschaftsinstrumenten aus – insbesondere von demokratischen Wahl- und Abwahlverfahren? Und wie gelingt es diesen traditionsreichen Organisationen, technologischen Wandel innerhalb bestehender Governance-Strukturen zu legitimieren? Diese Forschungsfragen richten den Blick auf die Funktionsweise klösterlicher Governance und adressieren zentrale Wissenslücken in der Literatur zur organisationalen Demokratie.
Dabei bietet sich die Digitalisierung als eine zeitgenössische externe Herausforderung an, anhand derer die Mechanismen traditioneller monastischer Governance-Strukturen untersucht werden können. Denn Klöster stehen zwischen Tradition und Transformation. Wiederum kann das Kloster Disentis zur Veranschaulichung herangezogen werden: Es ist das wohl älteste, ununterbrochen existierende Benediktinerkloster nördlich der Alpen. Gleichzeitig geht das Kloster durchaus mit der Zeit: Die Gemeinschaft hat unter anderem einen Social Media-Auftritt, einen Gottesdienst-Livestream auf der eigenen Homepage, mittlerweile zwei App-Produktionen. Gleichzeitig soll das Kloster ein Ort der Einkehr als bewusstes Gegenmodell zur beschleunigten Gegenwart bleiben.
Um die einzigartige Kloster-Governance zu untersuchen, ist ein multimethodischer Forschungsansatz besonders geeignet, um deren vielschichtigen religiösen, ökonomischen, sozialen und historischen Logiken umfassend zu begreifen. Wir kombinierten eine quantitative Befragung in über 100 deutschsprachigen Klöstern, die Codierung der online Präsenz dieser Klöster, sowie 28 qualitative Interviews und ethnographische Feldforschung in Klöstern in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Jerusalem. So entstand erstmals ein umfassendes Datenset zu demokratischen Entscheidungsmechanismen in Klöstern im Kontext des digitalen Wandels.
Mitbestimmung über Jahrhunderte: Drei Lehren aus der Kloster-Governance
Drei konkrete und praxisrelevante Haupterkenntnisse lassen sich herausstellen – auch im Hinblick auf die vielgeforderte Demokratisierung von Organisationen:
(1) Abwahlmechanismen stellen sich als wenig beachtete, aber hochwirksame demokratische Institution zur Förderung organisationaler Nachhaltigkeit heraus1. Organisationsdemokratie wird heute meist unter dem Gesichtspunkt aktiver Einflussnahme verstanden – etwa durch die Möglichkeit, Leitungspersonen auszuwählen oder sich in Entscheidungsprozesse einzubringen. Mit Blick auf die Kloster-Governance kann Mitbestimmung aber über ein enges Wahlparadigma hinausgedacht werden: Abwahlmöglichkeiten durch die Organisationsmitglieder wurden in Klöstern im Rahmen von Reformprozessen bereits im Hochmittelalter entwickelten, um moralischen Verfehlungen von Führungspersonen entgegenzuwirken. Empirisch zeigt sich im Klosterkontext: Abwahlmechanismen sind systematisch mit geringerer Führungshybris assoziiert, aso mit weniger Machtmissbrauch, risikoreichem Verhalten und Regelverstößen. Die Möglichkeit, dass Leitungspersonen jederzeit abgewählt werden können, stärkt also die Rechenschaftspflicht gegenüber der Gemeinschaft und sorgt wirksam dafür, dass die sozialen Normen der Gemeinschaft eingehalten werden. Abwahlmöglichkeiten – über Wahlmöglichkeiten hinausgehend – können also als ein pragmatisches, demokratisches Organisationsinstrument dienen.
(2) Klostergemeinschaften bewältigen disruptive Veränderungen wie die Digitalisierung nicht durch top-down-Steuerung, sondern über bottom-up-Legitimationsprozesse2. Digitale Medien werden einerseits gezielt genutzt, um die traditionelle Mission zu stärken, etwa durch Online-Gottesdienste, die Nutzung digitaler Bibliotheken oder die Verwaltung der Klosterbetriebe. Zugleich werden sie als potenzielle Störung empfunden: Ein österreichischer Abt bemerkte denn auch: „Seit dem Smartphone ist die Klausur Geschichte.“ – eine bemerkenswerte Aussage, meint die Klausur doch den zentralen Rückzugsort des Klosters. Dennoch finden sich in den untersuchten Klöstern kaum strenge Verordnungen „von oben“. Der konkrete Umgang mit Digitalisierung wird meist gemeinschaftlich verhandelt; er ist individualisiert und basiert insbesondere auf Selbstverantwortung. Diese Praxis verweist auf die Grenzen traditioneller Autorität im Digitalisierungskontext – auch im Kloster – und unterstreicht, wie demokratische Aushandlungsprozesse zur Legitimation technologischer Neuerungen führen.
(3) Überraschend ist: Die ältesten untersuchten Klöster, die sich durch ihre dezentralere Organisationsweise auszeichnen, gehen am anpassungsfähigsten mit digitalem Wandel um3. Sie sind sowohl innovativer, schützen aber gleichzeitig ihre Kernorganisation wie ihre religiösen Rituale effektiver. Innovationen werden oft im Kleinen ausprobiert und dann breiter eingeführt, wenn sie sich bewähren – ein Modus der vorsichtigen Öffnung, der technologische Anpassung mit institutioneller Stabilität verbindet. Einige Mönche und Nonnen weisen darauf hin, dass sie gemeinschaftlich bereits technologischen Wandel bewältigt haben wie Fernsehen und Radio – sowie den Buchdruck. In diesem Sinne sei die Digitalisierung nichts Neues. Demokratische Organisationsformen, wie sie in den Klöstern historisch gewachsen sind, bieten somit eine strukturelle Lernfähigkeit – über Jahrhunderte hinweg.
Klöster sind also keineswegs starre, vergangenheitsorientierte Institutionen. Vielmehr verfügen sie über anpassungsfähige Organisationsstrukturen, um mit Wandel langfristig umzugehen, ohne ihre institutionellen Grundlagen zu gefährden. Auch wenn die Zukunft der Klöster ungewiss scheint, so lassen sich aus ihren jahrhundertelangen Erfahrungen doch wertvolle Einsichten für moderne Organisationen gewinnen. Die Kloster-Governance fordert uns dazu auf, Mitbestimmungsinstitutionen über ein enges Wahlparadigma hinauszudenken, die Rolle demokratischer Prozesse bei der Legitimation von Wandel ernst zu nehmen und das langfristige Potential demokratischer Governance stärker in den Blick zu rücken. Vor dem Hintergrund heutiger demokratischer und organisationaler Krisen wird das Nachdenken über alternative Organisationsformen zu einer Inspirationsquelle für demokratischere und womöglich zukunftsweisendere Organisationsmodelle.

Autor: Jan Danko ist Postdoktorand am Soziologischen Institut der Universität Zürich. Er studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften mit einer Spezialisierung in Governance-Studien an der Universität St. Gallen und promovierte in Soziologie an der Universität Zürich.
In seiner Dissertation untersuchte er die Möglichkeiten und Bedingungen von Demokratie in Organisationen, mit besonderem Fokus auf partizipatives Entscheiden in der traditionsreichen Governance von Klöstern. Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsschwerpunkts Digital Religion(s) untersucht er die Governancestrukturen religiöser Organisationen im digitalen Wandel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Organisationssoziologie, insbesondere zu Partizipation und demokratischer Entscheidungsfindung am Arbeitsplatz, sowie in der Digitalisierungssoziologie.